You Can’t Judge a Book by it’s Cover
Rundfunkinterview von Hanns Zischler zum 25. Jahrestag des Merve Verlages
15. März 1995
Was wirkt ‑ der (einzelne) Autoroder die Serie?
Wir haben uns immer bemüht, von einem Autor nach und nach mehrere Bücher herauszubringen, um die verschiedenen Facetten dieses schillernden Geistes oder seines weitgespannten Unternehmens zu zeigen. Wo das nicht geschehen ist, interessierte uns vielleicht nur ein gewisser Aspekt des Autors oder er hat eine Entwicklung genommen, die wir nicht mitvollziehen wollten, Ansonsten ist dazu zu sagen, eine Perlenkette ist eben nur dann schön, wenn jede einzelne Perle ein Gedicht ist. Nun haben wir an Gedichten im engeren Sinne nur Heiner Müller, Blixa Bargeld und Jean Genet verlegt, wo jeder für sich in gewisser Weise hochkarätig ist, aber wenn man diese 3 Namen nebebeinander stellt, sieht man doch schon in welch existentiellem Sinne Merve Dichtung versteht.
Inwieweit ist das mittlerweile rapide älter werdende Medium des Buches immer noch geeignet, gerade jene Texte zu propagieren / transportieren. weiche die Tauglichkeit dieses Trägers in Frage stellen, für obsolet erklären? Desk top? Disketten Buch?
Ich persönlich gehe lieber mit einem Buch ins Bett als mit einem Lap top. Auch lese ich eine Bedienungsanleitung für eine neue Software immer noch lieber in Buchform als am Bildschirm. Das ist das Prinzip: neuer Wein in alten Schläuchen. Im Bereich der Bücher, die die neuen Medien zum Gegenstand ihrer Betrachtung machen, sind die Texte und Autoren am besten aufgenommen worden, die unsere eigene Wahrnehmung seitens der Technik zum Gegenstand machten, also Paul Virilio mit seiner Geschwindigkeit, ein Baudrillard mit seinen Simulationsthesen. der Kybernetiker Heinz von Foerster. Publizistische Versuche, weiter in die naturwissenschaftliche Hardware einzudringen, scheitern, sobald mathematische Formeln auftauchen.
Wenn man dagegen das Buch im Medium der Presse und des Fernsehens betrachtet, dann ist das ein trauriges Kapitel. Man gewinnt den Eindruck, das Buch muß erst mundgerecht verwurstet werden, damit es von den Kanälen aufgenommen werden kann. Möglicherweise ist das ein Sprachproblem. Die italienische und französische Rhetorik ist geradezu wortgeil nach neuen ungewöhnlichen Begriffen, mit deren sie dann kunstvoll jonglieren, die deutsche Journalistenbranche ist da weniger aufgeschlossen gegennüber dem Ungewöhnlichen. Einen sperrigen Deleuze’schen Begriff wie ‘Deterritorialisierung’ würde doch eine Lea Rosch nicht in den Mund nehmen, obwohl sich damit einige Vorgänge des heutigen Geschehen bezeichnen ließen. Man kann natürlich dem eine gute Seite abgewinnen und behaupten, solange dies so ist, ist das Buch im Vorteil, weil es da immer noch etwas Ungesagtes zu entdecken gibt.
Verlegen heißt ja auch: wo anders hinlegen, also den Autor seines Textes berauben und diesen unter oder neben die andem Texte zu legen, Ist der Verleger der- oder dasjenige, dem das ‘Gesetz der Serie’ gehorcht? Der es ‘schreibt’?
“Aus dem Zusammenhang reißen, in den Zusammenhang schmeißen”, hat der Musikjournalist Diedrich Diedrichsen diese für uns typische verlegerische Haltung genannt. Er meinte die Tätigkeit, verstreut erschienene einzelne Aufsätze eines Autors wie Foucault z.B. unter einem Titel wie Mikrophysik der Macht zusammenzustellen. Diese kompositorische Tätigkeit ist eine für Merve typische Eigenheit. Und als gelungenes Beispiel dafür würde ich das Buch Der Faden ist gerissen bezeichnen, worin die Aufsätze von Foucault über Deleuze und von Deleuze über Foucault zusammengestellt sind.
Was das ‘Gesetz der Serie’ oder die Reihe als ganzes betrifft, so bilden sich immer wieder innerhalb der Reihe Subreihen wie Nebenwurzein, die mit zwei drei Büchern eine Richtung andeuten, z.B. die Reihe der Ausstellungsmacher (Szeemann, Oliva, Gachnang, Lyotard) oder die Reihe des PopUndergrounds: Geniale Dilletanten, Berliner DesignHandbuch, Kathy Ackers Ex+Pop-Literatur, oder die Reihe ‘Perspektiven der Technokultur’. Am interessantesten sind die unterschwelligen Gemeinsamkeiten. Was hat z.B. die ManagementTheorie des Systemtheoretikers Dirk Baecker mit der literarisch-philosophischen Gestalt eines Bartleby gemeinsam? Hier spannen wir den Bogen manchmal ziemlich weit, und ich weiß nicht, wie wir das publizistisch transparent machen können. Ich sehe die Reihe eigentlich eher wie eine mosaikartige Struktur und glaube, daß man dadurch der Komplexität der Gegenwart, die viele Ungleichzeitigkeiten in sich birgt, am ehesten gerecht wird. Mal abgesehen vom Komponieren an einem Reihenkonzept oder Verlagsprogramm, ist die Geste des HerausGebens mir sehr wichtig. Mit der Publikation eines Autors oder eines Buches setze ich etwas in die Welt, gebe, ja schenke ich der Welt etwas und leiste so meinen Beitrag zur Gegenwart. Diese Gabe braucht einer, wenn er Verleger sein will
Leserschaft?
Keine Zielgruppen. Leser sind selber Macher. Komponisten, Architekten, Theaterleute, Designer, Filmer, Schriftsteller. Die brauchen das als Stoff, um sich anzuregen. Es ist aus dem Text Rhizom eine Rhizom-Brücke gebaut worden oder aus den Tausend Plateaus ein Mille Plateaux-TechnoLabel entstanden. Aus manchen Lesern sind Herausgeber oder Übersetzer geworden. Manche Autoren haben natürlich ihre Fan-Clubs. Aber gerade gerade solchen Zirkeln geben wir gerne mal etwas anderes zum Knabbern herein. Wichtig sind Querverbindungen, Brücken bauen. Wir haben ungefähr die dritte Generation der Leserschaft: politische Intellektuellen-Szene, die Fans des französischen Philosophen Diskurses, nun die Kunst und Technik Interessierten. Ich würde sagen, wir haben gute Autoren und gute Leser.
Ich will ja keinem zu nahe treten, aber der Schwachpunkt ist der Buchhandel dazwischen. Der Buchhandel befindet sich im Umbruch: Der gute Sortimenter, der einem auch mal das richtige Buch in die Hand drückt, hat Existenzsorgen, die Taschenbuch-Ladenketten sprechen das breite Massenpublikum an. Versuche wie bei Fnac, Audio-Video+Buch zu kombinieren, sind gescheitert. Vielleicht sollte man es mal mit der alten Buchclub-Idee und dem Leserabonnement wieder versuchen? Schließlich bekomme ich täglich Anrufe von Lesern aus kleineren Städten, die der Buchhandel mit einem einzelnen Merve-Titel nicht mehr versorgen will. Da sind neue Verbreitungskonzepte gefragt,
Zu den Brüchen Mitte der 70er Jahre mit der Marxismus-Diskussion …
Mitte der 70er Jahre, den exzessiven Jahren von Sex and Drugs and Rock’n Roll, fand eine allgemeine Entmischung der subkulturellen Sponti-Szene statt. Die militante Polit-Szene war festgefahren in einer allgemeinen Staatsfixierung, aber die Schwulen hatten ihr Coming Out, die Feministinnen forderten ihre Rechte ein, in die Rockszene brach der Punk mit No Future ein, die Concept Art wurde von der wilden Malerei überrollt. Es waren kurze Jahre der Entmischung einer subkulturellen linken Sponti-Szene.
Wir hatten ebenfalls die ausgelaugte Sprache von ‘Arbeit und Kapital’, ‘Haupt und Neben-Widerspruch’ satt. Statt dialektischer Einheit der Widersprüche setzten wir mit Foucault und Deleuze auf Vielheit und Differenz; statt Marx, Freud und Hegel setzten wir auf Nietzsche, Bergson, Canetti; statt Wunsch, Traum, Gefühl sprachen wir von Affekten und Intensitäten.
Diese publizistischen Impulse, die gerade die ritualisierten Worthülsen und Denkschemata aufbrachen, wurden spontan von diesem Patchwork der Minderheiten aufgegriffen und als Befreiung verstanden. Es ließ sich eben auch in den jahrelangen Kollektivs und Wohngemeinschaften nicht verhehlen, daß wir Kinder der Wohlstandsgesellschaft waren und mit Kaugummi großgeworden sind. Ein Individuierungsprozeß war somit vorprogrammiert.
Ansonsten zur Leserschaft und dem virtuellen Chor ist zu sagen: Wenn es denn ein Chor sein soll, so ist es auf alle Fälle ein vielstimmiger. Wir machen z.B. zwischen U- und E-Musik keinen Unterschied. Wichtg ist, daß der richtige Ton angeschlagen wird oder zumindest, wie Hannes Böhringer sagte, eine gemeinsame Tonart gefunden wird, bei der man sich zwar widersprechen, aber auch auf Melodie-Anklänge zurückkommen kann.
Machart der Bücher – arte povera
Mit dem Ausdruck arte povera für die Merve Taschenbücher bin ich einverstanden, nicht aber mit dem Ausdruck Sorglosigkeit. Es ist ja gerade die Sorge um den Fortbestand des Verlages, die eine Sparsamkeit der eingesetzten Mittel zur Herstellung der Bücher gebietet. Die redaktionelle Betreuung eines Buches nimmt bei uns mehr als 500 %. der Arbeit ein. Jedes Buch wird im Laufe des Herstellungsprozesses mindestens 4mal von uns gelesen: einmal im Original, dann im Vergleich mit der Übersetzung, dann im Vergleich zum Rohsatz und ein letztes Korrekturlesen vor Drucklegung. Mit den zwei umfangreichen Editionen der 600 seitigen Tausend Plateaus-Leinen-Ausgabe und dem 5 bändigen Werk Hermes von Michel Serres haben wir nur mal zeigen wollen, welche Bücher wir wie machen würden, wenn wir Geld hätten. Diese Editionen verdanken sich der großzügigen Sponsorentätigkeil des Herausgebers, wovon der Verlag als gesamtes Unternehmen aber unberührt bleibt.
Die Machart unserer Bücher betont gegenüber dem bibliophilen literarischen Buch den Gebrauchsaspekt des Taschenbuchs, worin kurzzeitig Energien gebunden und eingefangen werden, um von dort aus weiterzuwuchern und in andere Handlungsstränge Eingang zu finden. Wir geben also dem transitorischen Aspekt des Mediums Buch den Vorzug gegenüber dem fetischistischen Objekt.
Interview Bayerischerischer Rundfunk
23. Mai 1995 Bayern 2, Zündfunk
Gilles Deleuze und Felix Guattari haben im Vorwort zu Tausend Plateaus, in dem Text Rhizom über Bücher geschrieben, sie seien eine Werkzeugkiste, eine Brille.
“Probiert, ob sie euch paßt, ob ihr mit ihr etwas sehen könnt, was euch sonst entgangen wäre, wenn nicht, dann laßt mein Buch liegen und sucht andere, mit denen es besser geht … Wir lesen und schreiben nicht mehr in der herkömmlichen Weise.”
Wie ist es mit der Veröffentlichungspraxis von Merve? Gibt es da eine Parallele? Wie würden Sie Ihre Art und Weise, Bücher zu veröffentlichen, beschreiben?
Der Text Rhizom von Gilles Deleuze und Felix Guattari aus dem Buch Tausend Plateaus beschreibt einen neuen Buchtypus. Ein Rhizom ist ein unterirdisches Wurzelgeflecht, bei dem man problemlos von einem beliebigen Punkt aus zu allen anderen beliebigen Punkten gelangen kann. Auf diese Weise verbinden Deleuze/Guattari in den Tausend Plateaus unendliche viele Wissensgebiete miteinander. Es ist ein Synthesizer des Denkens. In der von Merve publizierten Taschenbuchreihe Internationaler Merve Diskurs ist es ähnlich: Es gibt zahlreiche unterschwellige Querverbindungen zwischen den Autoren, den Themen und den Büchern. Zum Beispiel gibt es eine unterschwellige Querverbindung zwischen dem Buch von Dirk Baecker Postheroisches Management und dem Buch von Deleuze über Bartleby.
Der Merve Verlag existiert jetzt seit 25 Jahren. Die CD, die Sie vor einigen Wochen herausgegeben haben, setzt Statements einer Reihe ihrer Autoren nebeneinander, Am Anfang der CD hört man Fahrgeräusche, Zuggeräusche, Bahnhof, Ankommen, Wegfahren. Können Sie mir erklären, inwieweit Reisen, das Nomadische mit Ihrer Vorstellung von Theorie, von Gedenken zusammenhängt?
Merve hat als Jubiläumsausgabe zum 25jährigen Bestehen des Verlags eine CD unter dem Titel You Can’t Judge a Book by it’s Cover herausgebracht. Darauf sind die Originalstimmen und Statements der Verlagsautoren zu hören, arrangiert und zusammengestellt von Hans‑Peter Kuhn und Hanns Zischler. Zwischendurch hört man Zuggeräusche, Bahnhofsansagen, Kaffeehaus-Geklapper. Es versinnbildlicht die Vorstellung, daß man nicht in einem leeren Raum auf einem weißen Blatt Papier denkt und lebt, sondern daß das Bewegliche, der Wechsel der Standpunkte und Perspektiven erst den Blick öffnet für das, was unmittelbar vor einem liegt.
Paul Virilio sagt dazu: “Um ein Wissen zu haben, muß man den eigenen Ort wechseln, muß man sich bewegen.”
So gesehen ist das Nomadische bei Merve Programm.
Die CD endet mit einigen Sätzen von Deleuze über das Rhizom. Ich habe immer angenommen, daß die Arbeiten der französischen Philosophen Deleuze und Guattari wichtig für Merve gewesen sind, ich meine, eine wichtige theoretische Inspiration. Was verstehen Sie unter Rhizom und inwieweit hat diese Vorstellung von rhizomatischer Praxis Ihre Verlagsarbeit beeinflußt?
Gilles Deleuze sagt am Ende der CD: “Das Gras wächst aus der Mitte heraus.” Diesen Satz könnte man als Motto für die Verlagsarbeit von Merve verstehen. Es heißt vielleicht nur, daß wir als Verlag der Gegenwart, als Verlag der ausschließlich Gegenwartsautoren publiziert, als aufmerksame Zeitgenossen aus dem Vollen oder der Fülle schöpfen. So ist es auch mit den Ideen, sie sind Ereignisse die plötzlich mittendrin sich ereignen.
Was mich interessieren würde: Sie arbeiten jetzt seit so vielen Jahren mit einer Reihe von Autoren und Autorinnen zusammen, immer wieder kommen neue hinzu, auch neue theoretische und ästhetische Felder. Wie sind Ihre Kontakte zu den Autorinnen? Reisen Sie viel? Liefern Autorinnen bei Ihnen Texte ab oder gibt es eine Art von gemeinsamer Arbeit?
Da Merve nur Gegenwartsautoren publiziert, ist natürlich auch die direkte Kontaktaufnahme mit den Autoren und Autorinnen möglich.
Von Jean Baudrillard, der vergangenes Wochenende den Medienpreis für Theorie verliehen bekommen hat, hat Merve bereits 1978 die ersten Aufsätze unter dem Titel KOOL KILLER oder der Aufstand der Zeichen publiziert, und wir haben seinen Werdegang bis hin zu seiner Illusion des Endes mit mehreren Publikationen begleitet. Zwischen Verlegern und Autor ist eine langjährige Freundschaft entstanden, aber die Grundvoraussetzung dafür ist die genaue Kennerschaft seiner Werke.
Mit dem Architekten und Urbanisten Paul Virilio, dessen Obsession die Geschwindigkeit ist, pflege ich seit Jahren einen langen Briefwechsel. Manchmal halten wir den Autoren auch durch die Titelwahl einen Spiegel vor. Das war bei Michel Foucault und dem Band Mikrophysik der Macht der Fall. Diese Titelwahl hat Foucault derart überrascht und gefallen, daß er ihn gleich für eine italienische Edition weiterverwendet hat. Aber die Grundvoraussetzung ist Kennerschaft.
Sie haben in den 70er Jahren als einer der ersten Verlage mit der Übersetzung und Veröffentlichung poststrukturalistischer Theorie begonnen. Ich meine Foucault, Deleuze, Guattari, Barthes, auch Kristeva, Cixous, lrigaray, oder Baudrillard, Lotringer usw. Bei aller Differenz dieser Autorinnen, weicher theoretische Einsatz hat die poststrukturalistische Theorie für Sie so wichtig gemacht’?
Die journalistische Plakette Poststrukturalismus hat Merve nie verwendet. Die französischen Gegenwartstheoretiker und Philosophen wie Foucault, Lyotard, Barthes, Irigaray, Baudrillard, Virilio sind singuläre Denker, denen doch eines gemeinsam ist: statt Einheit der Gegensätze oder Widersprüche, sind sie Denker der Vielheit, der Mannigfaltigkeit, der Differenz, des Minoritäten. Und sie haben Stil. Was man von schreibenden deutschen Professoren nicht gerade behaupten kann.
Merve hat in tausend Feldern publiziert, könnte man sagen: im neo‑marxistischen Feld, im Bereich der Psychoanalyse, der Semiologie, dem Feminismus, der Ästhetik. Wie kam diese Wanderschaft zustande?
Die erste Generation der Merve‑Leserschaft waren die Links‑Intellektuellen, die zweite Generation die Freunde des französischen Philosophen‑Diskurses und die dritte liegt zwischen Kunst und Technologie. Das Verlagsprogramm spiegelt eine Handlungsfähigkeit, die meines Erachtens eine der notwendigen Tugenden eines wachen Geistes ist. Dazu gehört auch, daß man den Mut hat, die Fans dadurch zu enttäuschen oder zu überraschen, daß man mit etwas völlig Unerwartetem auftritt. Das Postheroische Management von Dirk Baecker oder Heinrich Schliemanns Reise durch Japan und China im Jahre 1865 wären Beispiele dafür.
Die meisten Texte, die Merve veröffentlicht, sind kleine Texte: Essays, Interviews, Vorlesungen usw. Können Sie in diesem Zusammenhang mit dem Begriff des Fragmentarischen etwas anfangen?
Das Interview, das Gespräch, der Dialog ist ein Textgenre, das Merve in seinen Publikationen gepflegt hat. Die New Yorker Gespräche von Sylvère Lotringer, Interviews mit Amerikanischen Künstlern wie Bob Wilson, Phil Glass, Steve Reich, Burroughs sind ein gelungenes Beispiel. Der Übergang vom Mündlichen zum Schriftlichen ist dabei von Interesse: Die kleine Textform, der Essay sagt oft mehr als die großen Werke. Ein Meisterwerk in dieser Hinsicht sind die zwei Aufsätze von Roland Barthes über Cy Twombly.
Ende der 80er Jahre haben Sie begonnen, Bücher unter dem Label “Philosophien der neuen Technologie” und “Perspektiven der Techno‑Kultur” herauszugeben. Wie schätzen sie die Entwicklung der neuen Information‑ und Kommunikationstechnologien ein? Welche neuen Realitäten entstehen? Welche Gedanken finden Sie in diesem Kontext wichtig?
Das Buch Philosophien der neuen Technologie mit Aufsätzen führender Medientheoretiker wie Friedrich Kittler, Peter Weibel, Vilém Flusser, Jean Baudrillard ist wohl deshalb so begeistert aufgenommen worden, weil es die Seite unseres eigenen Wahrnehmungsapparates ins Zentrum der Betrachtung stellt.
Das gleiche gilt für Heinz von Foersters Buch KybernEthik das insofern eine Ethik im Umgang mit den Neuen Medien ist, als es die Frage stellt, inwieweit wir uns als Beobachter die Freiheit der Entscheidung gegenüber den Apparaten bewahren.
Erzählen Sie mal ein bißchen von Ihren Zeitungsprojekten, Merve hat eine Zeitlang Tumult herausgegeben, dann Schlausein, dabei sein, später Solo.
Die Einzelhefte Schlau sein dabei sein, Solo und Dry waren Zeitschriften mit Fanzine‑Charakter, auch eine graphische Spielwiese. Sie sind von der Leserschaft begeistert aufgenommen worden, das ging aber am Buchhandel völlig vorbei.
In Ihrem Buch You Can’t judge a Book by it’s Cover werden auch nochmal die Performances, die Filme, lnstallationen usw., die Sie organisiert haben, erwähnt. Welche Praktiken verfolgt der Merve Verlag?
In dem Buchobjekt You Can’t Judge a Book by it’s Cover, das die Jubi‑CD enthält, haben wir auch eine Liste sämtlicher Veröffentlichungen der letzten 25 Jahre abgedruckt, incl. der Performances, Installationen, Konzerte, Ausstellungen und Events, die der Merve Verlag in seiner Fabriketage veranstaltet hat. Diese Veranstaltungspraktiken zeigen eigentlich nur, daß Merve voll in seinen Projekten drin steckt und es eigentlich um eine Ästhetik der Existenz geht: Es ist eine Lebensweise und nicht nur Theorie.
Ich habe gehört, Sie haben sowohl zum Anti‑Ödipus als auch zu den Tausend Plateaus, also zu den beiden großen gemeinsam geschriebenen Büchern der französischen Philosophen Gilles Deleuze und Felix Guattari, Diskussionsabende veranstaltet. Wer kommt da? Worum geht es in der Diskussion?
Seit 1 1/2 Jahren lesen wir im privaten Kreis mit Freunden und Interessierten die Tausend Plateaus von Deleuze und Guattari. Einmal in der Woche trifft man sich und liest sich Absatz für Absatz reihum laut vor. Da das Werk sehr komplex ist, bietet sich eine gemeinsame Lektüre an, so daß jeder aus seinem Wissensgebiet und seinen Kenntnissen etwas dazu beitragen kann. Die Kontinuität hat den Vorteil, daß man auf Gespräche und Fragestellungen zurückkommen kann.
In Frankfurt gibt es ein Techno‑Label mit dem Titel Mille Plateaux. Haben Sie Kontakte zur fortschrittlichen Techno- und Ambient‑Szene?
Das Techno‑Label Mille Plateaux entlehnt seinen Namen von den Tausend Plateaus von Deleuze/Guattari, speziell dem Kapitel über das Ritornell, eine musikalische Figur. Wir hören viel Musik und haben viele Musiker und Komponisten als Freunde. Bei Techno‑Trance und Ambient‑Musik kann ich gut arbeiten. Der DJ Westbam und die Leute von Mayday sind alte Bekannte. Außerdem gehört das Berliner Night‑Life hier zum Alltag.
In den letzten Jahren ist die Philosophie der neuen Technologien, nehmen wir zum Beispiel Baudrillard, inflationär in der Kunstszene rezipiert worden. Finden Sie das ein fruchtbares Crossover oder ist das nicht mehr als ein neuer Theorie‑Schick in der Kunst‑Szene, der es an Perspektiven mangelt? Wo sehen Sie den Zusammenhang zwischen philosophischen Gedanken und ästhetischer Wahrnehmung?
Sylvère Lotringer hat in dem Bändchen Foreign Agent einen Aufsatz unter dem Titel ‘Kunst in den Zeiten der Theorie’ publiziert. Hierin geht es um die Entwicklung der New Yorker Kunstszene in den Achtziger Jahren. Darin ist der Trend der Kunst zur französischen Philosophie unverkennbar. Die Kunstszene ist gegenüber der Uni-Szene viel wacher und beweglicher. Und unsere Leserschaft sind im weitesten Sinne Künstler und Macher, d.h. Musiker, Designer, Filmemacher, Architekten. Die lesen Merve, weil sie Stoff brauchen, um sich anzuregen.
1978 ist aus dem Label des Merve Verlags ‘Internationale Marxistische Diskussion’ der ‘Internationale Merve Diskurs’ geworden. Wie kamen Sie zu dieser Entscheidung?
Mitte der 70er Jahre war eine Zeit allgemeiner Aufbrüche: die Schwulenbewegung, die Feministinnen, Punk. Dafür haben wir publizistisch eine Sprache gefunden, die sich allein schon an den Titeln ablesen läßt: Intensitäten. Patchwork der Minderheiten, Die unendliche Zirkulation des Begehrens, Der Faden ist gerissen.
Mit den abgedroschenen Worthülsen des Marxistischen Vokabulars wie ‘Arbeit und Kapital’ oder ‘Einheit der Wiedersprüche’ ließen sich diese Bewegungen und Phänomene eben nicht mehr fassen.
1993, als deutlich wurde, daß eine Reihe von deutschen Intellektuellen mit der neuen Rechten kokettierte, darunter auch Autoren. die in Ihrem Verlag publizieren wie zum Beispiel Walter Seitter, vor allem aber Autoren aus dem Umkreis des Matthes & Seitz Verlages und Filmemacher wie Syberberg, die Aversionen gegen “Punk und Junk” verbreiteten und sich auf die Suche nach neuer deutscher Identität begaben … in diesem Jahr 1993 haben Sie ein weiteres Buch über den rechten Juristen Carl Schmitt veröffentlicht? Warum?
Das schmale Bändchen Ad Carl Schmitt ist von Jacob Taubes. Jacob Taubes war Judaistik-Professor an der Freien Universität Berlin und stammte aus einer alten angesehen Rabbinerfamilie aus der Schweiz. Auf dem Rückendeckel dieses Buches steht der hebräische Spruch: Ne manim pizeh ohef, was soviel heißt wie “Treu sind die Wunden, die ein Freund oder Feind einem schlug”. Ich glaube, dieser Satz drückt klar und unmißverständlich den Standpunkt zu diesem Thema aus.
Sie arbeiten jetzt so lange in einem kleinen Verlag. Als Lektorin bei Suhrkamp würden Sie mehr verdienen. Was heißt das, sich für die Arbeit bei Merve zu entscheiden?
Ich habe mich nicht eigentlich für die Arbeit bei Merve entschieden, sondern ich habe die Arbeit einfach gemacht, und das seit 20 Jahren. Ich kann nichts anderes, das ist mein Leben. Und ich bin reichlich dafür belohnt worden. Die Begegnungen mit den Großen unserer Zeit, mit Michel Foucault oder John Cage haben mein Leben enorm bereichert.
Noch eine Frage zum Titel des neuen Buches You Can’t Judge a Book by it’s Cover. Falsches Englisch oder Wortspiel?
You Can’t Judge a Book by it’s Cover ist der Songtitel von Bo Diddley, der dann von Stevie Wonder bis zu den Jever Mountain Boys immer wieder gespielt wurde. Von einer der Einspielungen haben wir die besondere Schreibweise des Titels übernommen.
Was veröffentlicht Merve demnächst?
Wird nicht verraten. Betriebsgeheimnis.
31. Mai 1995 Berlin
Verehrte Gäste, liebe Freunde
25 Jahre alt und noch nicht kalt ‑ oder?
Ich möchte Euch bei dieser Jubi‑Party verschonen mit dem obligatorischen Rückblick auf die Gründerjahre, als uns noch die rote Fahne um die Nase wehte. Diese Geschichte mögen andere erzählen. Außerdem möchte ich einigen inzwischen arrivierten Persönlichkeiten die vielleicht peinliche Erinnerung ersparen, daß sie mit ihren eigenen Händen in konspirativen Kellern Raubdrucke zutage befördert haben.
Aber ich darf doch sagen, es waren exzessive Jahre mit Sex and Drugs and Rock’n Roll. Und ich hoffe, daß einiges von diesem Existenzdispositiv in den Merve Büchern seinen Niederschlag gefunden hat. Aber ein Verlag besteht nicht nur aus seinen Büchern und dem Leben derer, die sich dieser Sache verschrieben haben.
Was wäre ein Verlag ohne seine Leser und seine Freunde? Und deshalb sind wir heute hier zusammengekommen um miteinander zu feiern, zu feiern mit all denen, die den Verlag mit getragen, mit unterstützt, mit begleitet haben mit Rat und Tat. Und ich möchte allen von Herzen dafür danken. Einen Freund des Verlages erlaube ich mir stellvertretend für Euch alle zu erwähnen, er ist nämlich der älteste und treueste Freund dieses Unternehmens: Er heißt Hans-Peter Karl Leopold Gente. ‑
Lieber Peter, ich verleihe Dir hiermit die Treueprämie erster Güte.
Und da wir schon bei dem Vornamen Hans-Peter sind, möchte ich nun Hans-Peter Kuhn nach vorne bitten. Ich glaube, die Freundschaft mit Hans-Peter hatte schon 10 Jahre bestanden, bevor er ein Merve Buch gelesen hat. Aber deswegen steht er heute nicht vor Euch.
Und nun möchte ich noch den dritten Hanns nach vorne bitten. Hanns Zischler, den ich schon aus meiner Studentenzeit kenne, als er noch mit einer Kiste Marquis de Sade Büchern hausieren ging.
Aber er steht auch nicht deswegen heute vor Euch. Diese beiden jungen drahtigen Herren stehen heute vor Euch, weil sie nämlich das Kunststück zustande gebracht haben, auf witzige und intelligente Art 25 Jahre Merve Verlag auf 25 Minuten zu komprimieren unter dem Titel You Can’t Judge a Book by it’s Cover.
Und ich bitte nun unseren DJ Wolfgang Hagen, der mit seiner rolling disco extra von Radio Bremen hier angedüst ist und der in Sachen Merve auch ein Mann der ersten Stunde ist, endlich den Ton abzufahren.