Die Brille von Foucault

© Ulrich Raulff, Tunix-Kongress TU Berlin 1978

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Michel Foucault, ein Name, eine Faszination, eine lexikalische Tatsache. Es steht hier nicht die Person, der Autor oder das Werk zur Debatte, von Interesse ist allein die Zusammensetzung der Buchstaben, die einen Namen zum Hauptwort machen. Andere gott‑ und vaterlose unzeitgemäße Kinder ihrer Zeit tragen Namen, die zum Begriff werden, wie Nietzsche, Freud, Marx zum Beispiel.
Und Foucault? Zu Foucault gesellen sich andere Worte: Scharfsinn, Klarsicht, Ungeduld, irritierend und irisierend, unerschrocken schlicht und präsent, als Techniker des Diesseits dem Ereignis zugeneigt. Es gibt keinen Begriff, der reduzierend treffen könnte wie Professor, Genealoge, Journalist, Aktionist oder dergleichen. Foucault sagt: “Ich bin ein Werkzeughändler, ein Rezeptaussteller, ein Richtungsanzeiger, ein Kartograph, ein Planzeichner, ein Waffenschmied …”

“Intensitäten haben mit Eigennamen zu tun”

In diesem unauflösbaren Wirrwarr dennoch Foucault‑Leser zu sein, heißt, sich auf eine Klarheit einlassen, die ziellos macht; sich auf etwas einzulassen, das unreduzierbare Verwirrung stiftet. Lesend treffen wir auf eine präzise Beschreibung der Wirklichkeit, die so beißend genau beschrieben wird, daß diese Wirklichkeit unangenehm, ja unannehmbar wird und man sich nach einer anderen Wirklichkeit zu sehnen beginnt.
Gewohnheitsmäßig fällt bei der Sehnsucht nach einer anderen Wirklichkeit das Stichwort “Befreiung”. Aber so leicht macht es Foucault uns nicht: das Wort “Befreiung” kommt in seinem neuesten Buch in Häkchen vor, denn der allzu häufige Gebrauch dieses Wortes hat aus der Befreiung Behaglichkeit gemacht. Immer, wenn wir in der Klemme sind, heißt das Lösungswort “Freiheit”. Die minutiösen Beschreibungen Foucaults lassen keinen Freiraum, keine kleinen Freiheiten, Sexualität und Gefängnis haben alles so durchdrungen, sind so zwingend, daß nichts Unberührtes bleibt, also auch keine Illusionen. Was bleibt und Foucault uns läßt, das müssen wir erst schaffen. Durch seine Texte gezwungen, müssen wir, die letzten Romantiker, den Traum aufgeben, daß die Wirklichkeit schon existiert, wir sie bloß noch zu entdecken hätten oder uns aneignen müssen. Auf diese Wirklichkeit hält Foucault den Finger und sagt: schon besetzt, alles schon durchdrungen, kein Freiraum mehr.
“Wenn du hier was willst, dann mußt du dir deinen Platz schon selbst mitbringen.” (Handke)
Damit schlägt er alle vor den Kopf, die gerade bemüht sind, sich einen Platz zu erkämpfen oder ihre Stellungen zu halten. Was Foucault hingegen macht, das nennt François Ewald: Räume erschließen und sich weigern, davon Besitz zu ergreifen. Er macht also etwas, wovon unser Denken nur träumen kann. Er schafft schreibend eine künstliche Wirklichkeit, hinter die wir nicht mehr zurückfallen können.
Die Brille, die wir mit unserem Lesen versuchsweise aufsetzen, um die Welt genauer, schärfer, krasser oder in rosa zu sehen, verändert unsere Optik und wächst fest. Weil er das zur Sprache gebracht hat, “was jedermann sieht, ohne zu sehen.” Foucault lesen ist eine Droge, ein Flash im Kopf. Es schwindelt einem vor “Abgründen, Blitzen und Donner”, die Ohren sausen vor “murmelndem Schweigen”, “knisterndem Licht”, dem Rieseln des Marmors.” Er “zerschneidet das winzigste Nu” und “eröffnet den hinterhältig kläffenden Trugbildern die Tür”. Er schreibt wie der Teufel. Und in tausend und einer Nacht erwachte der Traum eines Denkens thousand miles away.

“Alle Namen der Geschichte bin ich”

Gehen wir auf die Anfänge zurück. “Der Genealoge geht auf die Suche nach dem Anfang, den unzähligen Anfängen, die jene kaum merkbaren Spuren hinterlassen, weiche von einem historischen Auge doch nicht übersehen werden wollen.” Folgt man den großen historischen Arbeiten Foucaults, so findet man zumindest sechs Anfänge:

1. Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft, 1961 (dt. 1969)
2. Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks, 1963 (dt. 1973)
3. Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, 1966 (dt. 1971)
4. Archäologie des Wissens 1969 (dt. 1973)
5. Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, 1975 (dt. 1976)
6. Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen, 1976 (dt.1977)

Der Wahn, die Medizin, die Humanwissenschaften, das Gefängniss und die Sexualität, sie sind alle um 1830 entstanden. Das will nicht heißen, daß nicht schon vorher geliebt, gestraft, geheilt, geirrt worden wäre, nur ab ca. 1830 wurden sie der Gegenstand des Wissens, des Erkennens und Erforschens und gerieten in die Mühlen und Räderwerke der eigens dafür geschaffenen Erkenntnisprozeduren und ‑Institutionen, deren Produkt wir heute als Psychiatrie, Medizin, Gefängnis, Psychoanalyse, Pädagogik usw. kennen. Alle Bücher enden ca. 1830 (wo die von Marx beginnen). Sie sind geschrieben mit der “peinlichen Genauigkeit des Wissens, einer Vielzahl angehäufter Materialien, Geduld”.

In diesen Büchern entwickelt Foucault Gegenwissenschaften zu den Humanwissenschaften, weil gerade die Maschinerien, die der Humanismus zur Erkenntnis der menschlichen Seele, des menschlichen Körpers, des menschlichen Geistes, des menschlichen Geschlechtes in Gang setzt, sich verselbständigt haben und laufen, inzwischen auch ohne den Menschen weiterlaufen.
Wenn die machtvollen Technologien und Apparate, mit denen wir es heute so unangenehm zu tun haben, entstanden sind unter dem Banner der Menschlichkeit zum Zwecke der Erkenntnis des Menschen, dann kann der Mensch nicht länger Subjekt oder Objekt der Erkenntnis bleiben. So wird einleuchtend, daß Foucault gerade an der Zerstörung abendländischer Wissenschaften arbeitet, die uns das bescherten.

Dagegen entwickelt er ein anderes Denken, ein spielerisches, veränderbares und komplexes Denken in Aktion. Seine Beschreibungen sind so, daß der Gegenstand seine festen und gewohnten Umrisse verliert und mit anderen Gegenständen verschmilzt. Erfinderisch bildet er neue Bereiche des Wissens/Nichtwissens, weil er nur so dem begrifflichen Zwang herkömmlicher Wissenschaftseinteilungen entgehen kann. Er denkt nicht dialektisch und wendet sich gegen ein Ursache/Wirkungs‑Denken, worin Sinn und Bedeutung schon immer vorgegeben sind, während für ihn Sinn ein Produkt ist, also veränderbar und endlich. Er läßt die üblichen Themen der Historie wie Ursprung, Bedeutung und Zielgerichtetheit beiseite und zeigt stattdessen in der Analyse der Herkunft gerade die Vielfältigkeit der Anfänge auf. Nach dem Motto: der rote Faden der Geschichte ist gerissen, wir fransen fort. “Die Analyse der Herkunft führt zur Auflösung des Ich und läßt an Orten und Plätzen seiner leeren Synthesen tausend verlorene Ereignisse wimmeln …”
Wer spricht also, wer handelt? “tausend kleine aufgelöste Iche, tausend Passivitäten und Durcheinander. wo gestern das souveräne Subjekt herrschte.”

Hinwendung zur Politik

Foucaults theoretisch spekulative Tätigkeit ist ein politischer Akt. 1970, bei seiner Antrittsvorlesung am Collège de France für den Lehrstuhl “Geschichte der Denksysteme” sagt Foucault dies deutlich. Das Denken ist politisch bestimmt von den Institutionen der Ausschließung, von der Macht und dem Begehren, dem Willen zum Wissen und dem Willen zur Wahrheit. “Die Wahrheit einwenden als Punkt des Widerstands”, “eine Geschichte der Politisierung der Probleme” schreiben.

Als Professor wechselt Foucault das Terrain vom Schreiben zur mündlichen Aussageform. Es findet eine Positionsveränderung im Verhältnis zur Öffentlichkeit statt. Der Buchautor tritt in den Hintergrund, der Herausgeber im “Fall Pierre Rivière” tritt hervor. Abgesehen von den verschiedenen Vorworten, Einleitungen, Beiträgen zu Autoren wie Blanchot, Klossowski, Nietzsche, Bataille, Deleuze, schreibt er in fast allen namhaften französischen Zeitschriften, gibt Interviews und scheint für unzählige Diskussionsteilnahmen offen. Er trifft sich mit Geographen, Sozialarbeitern, Analytikern und Parteipolitikern. Übernimmt organisatorische, journalistische Tätigkeiten in der Gruppe Gefängnis‑Information”. Taucht ein in die Anonymität der Gruppe. Engagiert sich in der Croissant‑Affäre, ist Mitunterzeichner des “Manifestes französischer Intellektueller gegen die Repression in Italien” (siehe Autonomie [Materialien gegen die Fabrikgesellschaft, Frankfurt] Nr. 8). Nimmt an “TUNIX” teil, reist als Berichterstatter des ‘Corriere della Siera’ in den Iran. Bezog vor kurzem deswegen in Paris von zwei Leuten Dresche. (siehe Libération‑Artikel vom 4. April 79).
Unerschrocken mutig stürzt er sich in einen vielfältigen lokalen Kampf gegen die Macht und bezieht nicht zum ersten Mal Dresche: bei der Croissant‑Auslieferung haben ihm die Bullen eine Rippe gebrochen, bei einem Berlin‑Besuch konnte er unfreiwillig deutsche Zellen von innen besichtigen (siehe Spiegel‑Artikel vom 19.12. 77).

Foucaults deutliche Hinwendung zur Politik setzt ein mit Überwachen und Strafen, seinem, wie er sagt, ersten Buch, und mit seinem Engagement in der Gruppe “Gefängnis‑Information” (GIP). An diesen beiden Punkten setzte auch seit 1976 schlagartig das Interesse der deutschen Linken an. Deutlich festzumachen an dem Merve‑Bändchen Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Medizin, ablesbar auch an zahlreichen Besprechungen linker Zeitschriften wie Autonomie, Politikon, Diskus oder Ulkus molle, an Herbert Röttgens Vulkantänzen, an Polemiken wie Rive Gauche von Jaime Semprun und Artikeln von Negt, Naier und Amery in Literaturmagazin 9. Der neue Irrationalismus. Sehen wir genauer nach.

Analytik der Macht

Überwachen und Strafen schreibt die Geschichte von den “Martern zu den Zellen”  spannend wie ein Roman. Beschreibt die Herausbildung des Gefängnisses, den Übergang vom “Straffest zur Straftechnik”, vom “Exzess zum System”, von “Volksfest und Leidenschaft zu Ruhe und Ordnung” (Thomas Schmid). Vom Theater der Grausamkeit mit seinen Schauprozessen, Zeremonien und inszenierten Szenen zur monotonen Fabrik der Strafmaschinerien, Apparate, Institutionen, Technologien und Kriminalwissenschaften.
“Was ist daran verwunderlich, wenn das Gefängnis den Fabriken, den Schulen, den Kasernen, den Spitälern gleicht, die allesamt den Gefängnissen gleichen?”
Nun, von den Menschen ist nicht mehr die Rede, das ist verwunderlich!

Von den Gefangenen, ihren Leiden und Revolten spricht Foucault in Überwachen und Strafen nicht. Er zeigt den Knast als authentische Errungenschaft der Neuzeit, als Produkt der seit zwei Jahrhunderten wirkenden Rationalisierung und Humanität. Denn die Menschlichkeit hat aus Abscheu vor den gräßlichen Martern für Milde plädiert. Sie hat nicht nur für die Abschaffung der Strafe plädiert, sondern für unblutigere, sauberere Strafmaßnahmen, die wirksamer sind als die unnützen Übertreibungen eines Herrschers Rache: “Strafen nicht mehr nach dem Willen des Gesetzgebers, sondern aus der Natur der Dinge fließen lassen.” (Marat)
Diese erbarmungslose mitleidige Menschlichkeit hat uns also die technokratische “Brutalität in Stein” (Kluge) beschert. Hat uns die allgegenwärtige Überwachung und Kontrolle beschert, mit Ampeln, Zeitzwängen und Video in den Kaufhäusern, mit ihren Normen und Disziplinen in unseren Köpfen und Körpern. Immer seltener muß die Macht die Fratze roher Gewalt zeigen, wie die zunehmenden Datenbanken und Statistiken beweisen, denn die Gewalt ist als Normalzustand zwischen uns und in uns, dem dressierten Automaten-Menschen.
“Wo viel vom Menschen geredet wird, da geht’s steigend unmenschlich zu” (Martin Puder).

Konsequenterweise wendet sich Überwachen und Strafen allein der Analytik der Macht zu, schaut festen Auges auf ihre Organisation, ihre Entwicklung, Verteilung und Zusammensetzung, auf ihre Mittel der hierarchischen Überwachung, der normierenden Sanktionen, Prüfungen, Kontrollen und ihrer Kanalisierung der Gesetzwidrigkeiten zum Zwecke der ökonomischen Nutzung, wie die Heranzüchtung von Spitzeln, Denunzianten, Informanten … dem Delinquenten‑Milieu, dem subkulturellen Milieu. Auch ein Herr Glotz macht sich da heute verdient. Im Dialog mit der zweiten Kultur sucht er zu verstehen, was er als Wissen dann dem Senat zuträgt, der daraus neue Ordnungsregeln erfindet, um Abweichungen zu kontrollieren.

Wenn Macht nicht mehr mit MachtHaber gleichzusetzen ist, nicht mehr besessen wird, nicht mehr zentral gelenkt ist, auch von keiner Parteizentrale oder einem demokratischen Zentralismus, sondern wenn Macht ein feinmaschiges Netz ist, das das ganze soziale Feld mit Mikromächten wie Erziehung, Familienzellen durchzieht, durchläuft, wirkt, wenn Macht also “keinen festen Wohnsitz mehr hat” (Käthe Trettin), kann Foucaults Analyse der Macht sich davon nicht ausnehmen. Er will die Macht nicht besitzen, sondern zerstören mit der fröhlichen Wissenschaft des Judo. Er entwickelt also keine Theorie der Macht, die wir nur noch anzuwenden brauchen, sondern eine Mikrophysik der Macht, d.h. sein Text ist selbst ein Stück Taktik und Strategie im Kräfteverhältnis der Macht. Denn, wie A. W. [Arno Widmann] in der taz schon sagte: Die Wahrheit ist nicht mehr pur zu haben.”

Das Wissen ist mit der Macht verzahnt, die Macht ist im Wissen wirksam. Zwei Beispiele dazu: Überwachen und Strafen zitiert unzählige Materialien aus Gerichtsakten, Archiven, losen Blättern und Gazetten, die alle von großen Autoren als unwichtig und unwissenschaftlich abgetan wurden. Foucault verhilft dieser Masse von Reden, die die Prozeduren Macht/Wissen ausschließen, zur Sprache. Das ist der erste Schlag ins Kontor der Wissenschaftlichkeit. Andererseits zitiert Foucault an mehreren Stellen die großen Autoren ohne Häkchen. Damit versinken sie im Namenlosen der Geschichte. Das ist der zweite Schlag, den Foucault der herrschender Geschichtsschreibung versetzt. Gegen die Hierarchisierung von Wissen betätigt er sich als Unruhestifter in unseren Denk- und Sehgewohnheiten, vollzieht einen Perspektivenwechsel vom Großen zum Kleinen, von den Makromächten zu den Mikromächten.

Das Buch ist unautoritär, ohne Einleitung oder Zusammenfassung. Ohne Anspruch auf ausschließende Wahrheiten führt er die Lust ins Denken wieder ein, gegen das Denken in Disziplinen. Eingebunden in Buch und Schrift, läßt sich dennoch kein System daraus machen, dagegen sträubt sich Foucault. Er empfiehlt, es zu lesen wie eine Werkzeugkiste.

“Wo es Macht gibt, gibt es Widerstand”

Die Macht ist überall und allgegenwärtig. Das heißt 1. es gibt kein Entkommen mehr, weder Freiräume noch Ohnmacht. Es heißt 2. der Widerstand ist der Macht nicht mehr entgegengesetzt, nicht äußerlich. Macht und Widerstand, besser gesagt Gegenmacht sind bewegliche Kraftfelder. Es heißt 3. der Kampf ist nicht mehr nur einer:
“Dies bedeutet, daß sich das System nicht an einem einzigen Punkt bekämpfen läßt, wir müssen an allen Fronten präsent sein …” und
“Die Frauen, die Gefangenen, die Soldaten, die Kranken in den Spitälern, die Homosexuellen kämpfen nun in jeweils verschiedener Form gegen die jeweiligen Formen von Macht …”

Die Gruppe “Gefängnis‑Information” (GIP), die sich Anfang 1971 um Foucault, Jean‑Marie Domenach und Pierre Vidal‑Naquet gebildet hat, ist ein Moment in den zerstreuten und veränderbaren Kämpfen. Sie entstand nach dem Hungerstreik linker Gefangener, der eine Solidarisierung zwischen den politischen und den “allgemeinen” Gefangenen auslöste. Erstes Ziel der GIP: Herstellung von Öffentlichkeit. Sie verteilt unter den französischen Gefangenen einen Fragebogen, dessen Veröffentlichung im Mai 71 zur Gründung von Untersuchungsgruppen führte. Sie bestanden aus Gefangenen, Ex‑Gefangenen, Familienangehörigen, Rechtsanwälten, all jenen, “die imstande sind, persönliche Aussagen über die Gefängnisse zu machen.”
“Die GIP beabsichtigt nicht, für die Gefangenen der verschiedenen Strafanstalten zu sprechen, sie beabsichtigt im Gegenteil, ihnen die Möglichkeit zu geben, selbst zu sprechen …”
Denn der Knast zielt gerade darauf ab, die Gefangenen im Schweigen einzuschließen und sie einzig in den juristischen, psychiatrischen und medizinischen Fachsprachen als Gegenstand von Untersuchungen und Gutachten zu Wort kommen zu lassen.
“Wenn man dazu das Wort ergreift, wenn man das institutionelle Informationsnetz zerreißt, wenn man die Dinge beim Namen nennt, wenn man sagt, wer was getan hat, wenn man die Zielscheibe ausfindig macht … wenigstens für einen Augenblick die Macht an sich reißt … und spricht .. .das ist bereits Kampf.”
(Dies könnte auch das Stichwort sein für die taz und einen anderen Journalismus.)

Konsequenterweise will die GIP kein Sprachrohr sein und sich als Intellektuelle an die Spitze derer setzen, deren stumme Wahrheiten sie verkündet. Sie will Werkzeug sein, Mittel und Instrumente liefern zur Produktion und Verteilung. Sie will auch keine politisch‑moralische Erziehung leisten, wie eine Sektion des Schriftstellerverbandes, die mit christlicher Nächstenliebe und aus schlechtem Gewissen den Insassen den Goethe nahebringen will. Diesen alten Gefühlen von Mitleid leistet die GIP keine Gefolgschaft. Sie will auch nicht blindwütig reinhauen, sondern kaltblütig, d h. wirksamer. Ergebnis ihrer kurzen Tätigkeit:
“Der Winter 71‑72 bringt rund dreißig Revolten”.
“Neu ist nicht, daß sie revoltieren. sondern daß sie eine Struktur vorfinden, in der sie gehört und unterstützt werden.”

Im Dezember 1972 löst sich die GIP freiwillig auf, die Gefangenen haben ihre Sache selbst in die Hand genommen: Am 5.12. 72 erscheint die erste Zeitungsnummer der C.A.P. (Aktionskomitee der Gefangenen). Einer der Mitbegründer ist Serge Livrozet, zu dessen Buch Foucault das Vorwort schrieb (s. u.).
Vorübergehende Umkehrungen der Kräfteverhältnisse schaffen, im Beziehungsgeflecht der Mächte unerwartet neue Verbindungen eingehen, verfestigte Strukturen auflösen. Mal ein bißchen Sand ins Getriebe, das gibt Reibungspunkte, provoziert Widerstand, blockiert. Mal ein bißchen Öl auf die alten Mühlen, dann drehen sie durch und laufen davon. Mal Bockigkeit, mal Geschmeidigkeit. Einfach verlockend, die Lust an der Kriegskunst. Mit List Fallen zu stellen und sich diebisch zu freuen. Um dann wieder, ganz uneitel, schlichtweg anders zu sein, so daß die harmlosen Selbstverständlichkeiten des Normalen als nackte Unverschämtheiten dastehen. Und so vieles noch …

Foucault ist inzwischen längst wieder unterwegs. Er arbeitet an der Geschichte der Sexualität. Der erste Band Sexualität und Wahrheit. Der Wille zum Wissen. Doch darüber ein andermal …

                                                                                    Heidi, die piepsmaus

Literaturhinweise:

Von der Subversion des Wissens. Hrsg. Walter Seitter, Berlin 1978 (mit Bibliographie und gutem Nachwort. Der beste Text zum Einsteigen)
Schriften zur Literatur, München 1974 (nur noch im Ramsch zu kriegen)
Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz, Psychiatrie und Macht, Berlin 1976 (Mit Vorwort von Daniel Defert / Jacques Donzelot über die GIP)
Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin 1978 (Mit Vorwort von F. Ewald)
– Gilles Deleuze/ M. Foucault: Der Faden ist gerissen, Berlin 1977
– Serge Livrozet: Über die Berechtigung, in fremde Taschen zu greifen, München 1975 (Der Autor ist Mitbegründer der C.A.P.)

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taz-Magazin v. 22.6.1979, S. 12-13
mit freundlicher Genehmigung der taz –
die tageszeitung

später in:
Alfons Köhler u.a. (hrg.): Kühltürme 1. Geschichten. Bilder. Schmidt & Schmidt, Berlin 1979